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Artikel für die clio 99 (November 2024)
Tagtäglich laufen wir an großen Werbeplakaten vorbei, sehen verschiedene Anzeigen in Magazinen und auf Internetplattformen. Etwas haben alle gemeinsam, nur eine Zielgruppe ist erkennbar: jung, Anfang 20, zarte Haut und unbeschwerte Ausstrahlung. Es scheint als würde nur diese Altersgruppe gerne Kaffee trinken, in den Urlaub fliegen, Klamotten kaufen und Spaß am Leben haben. Diese Botschaft „Jung ist schön und Alt wollen wir nicht sehen.“ wird in unzähligen verschiedenen Varianten in unterschiedlichsten Sprachen in die Welt transportiert.
Doch wo sind die wunderbaren, attraktiven Frauen mit einzigartigen Charisma jenseits der 40? Die Öffentlichkeit versteckt sie, denn es soll ein Bild nach Außen aufrecht erhalten werden von dem ewig jungen, aktiven und vitalen Quell der Freude. Seit Jahren möchte die Werbung uns einreden nur wenn wir jung sind, fühlen wir uns gut und sind etwas in der Gesellschaft wert. Und um uns jung und wertvoll zu fühlen sollte wir am besten sehr viel Geld ausgeben um die Reise in die Karibik zu buchen, die besonderen Kaffeepads zu kaufen und nur bestimmte Kleider zu tragen.
Ganz klar kann ich sagen: bei mir funktioniert das nicht. Deshalb sprach ich mit 35 unterschiedlichen Frauen im Alter von 48 bis 97 Jahren, um ihre Meinungen zum Thema Älterwerden zu hören. Die Essenz aus den Gesprächen überraschte mich sehr.
Alle interviewten Frauen waren sich einig: die 20er Lebensjahre waren aufregend, aber auch extrem anstrengend. Diese Phase war geprägt von vielen Unsicherheiten und Fragen: „Wer bin ich?“ „Was möchte ich erreichen?“ „Wie soll ich das schaffen?“ „Wie kann ich überleben?“ Auf der anderen Seite beschrieben alle diese Phase auch als abenteuerlustige, risikofreudige Zeit.
In den 30er Lebensjahre drehte sich bei den Frauen alles um das Thema Familienzusammenhalt, Arbeit und Selbstaufgabe. Im Vordergrund stand die Überforderung für alle in der Familie da zu sein und keine Zeit für sich zu haben. Im Nachhinein betrachtet empfanden die Frauen diese Zeit als Phase der Aufopferung und der Sorgen.
Auch im nächsten Abschnitt waren die Frauen einer Meinung: die 40er Lebensjahre waren Krisenzeiten. Alle Frauen waren mit dem Thema Tod beschäftigt: Eltern, Ehepartner und auch Kinder starben. Die meisten interviewten Frauen beschrieben diese Zeit als die härtesten, jedoch auch erkenntnisreichsten Jahre. In den 40er Lebensjahre hinterfragten sie ihr bisheriges Leben, sich selbst und entdeckten ihre Wünsche neu.
Ab den 50er stand die Frage im Vordergrund: „Wer bin ich als Frau, wenn ich keine Kinder mehr bekommen kann?“ „Wo ist mein Platz in der Gesellschaft?“ „Welche Fußstapfen kann ich für die Nachwelt hinterlassen?“ 33 der 35 Frauen beschrieben die Zeit ab dem 50. Lebensjahr als die wunderbarste und entspannteste Zeit in ihrem Dasein, welches nun geprägt ist von persönlicher Freiheit, unabhängig von Unsicherheit über die eigene Identität, ohne Zerreißprobe in der Familie und ohne persönliche Krisen.
Besonders die Gespräche mit einer 97Jährigen haben mich nachhaltig beeindruckt, die ihre Erkenntnisse rückblickend auf ihr Leben schilderte. Diese wunderbare Zeit mit ihr empfinde ich als sehr wertvoll und brachte mich dazu auch mein Leben genauer zu betrachten.
Erkenntnis 1: die schönste Zeit im Leben
„In allen Lebensjahrzehnten gab es gute und weniger gute Tage und auch Situationen. Es gab Zeiten voller Sorge, aber auch voll mit Leben und Liebe.
Die schönste Zeit ist jetzt. Denn jetzt weiß ich wer ich bin, was ich kann und was ich brauche, um glücklich zu sein. Ich möchte mit keinem jüngeren Menschen tauschen. Momentan ist die gesamte Lage der Welt aus den Fugen geraten und ich bin froh auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen zu können. Dadurch fühle ich mich gelassener, denn ich weiß, dass ich schon ganz andere, schwierige Situationen durchlebt und überlebt habe. Es gibt keine unlösbaren Probleme. In jungen Jahren und unerfahren, wie ich war, würde ich mich in der heutigen Zeit wahrscheinlich gar nicht zurechtfinden. Jetzt fühle ich mich irgendwie angekommen, auch wenn ich mich der heutigen Technik nicht auskenne.“
Erkenntnis 2: das Leben nicht zu Ernst nehmen
„Manchmal denke ich: Warum müssen die sich jetzt streiten. Einen richtigen Grund haben die doch gar nicht. In meinem Alter weiß man, dass selbst in den schwierigsten Situationen Freude und Glücklichsein ihren Platz haben. Das funktioniert aber nur, wenn man sich selbst und auch das Leben nicht zu Ernst nimmt. Das habe ich in den letzten Jahrzehnten gelernt. Die Zeit ist einfach zu schade, um sie mit sinnlosen Streiten zu verbringen. Natürlich müssen Dinge geklärt werden, das geht auch mit Freude und Leichtigkeit. Warum nicht einfach über sich selbst und über die Perlen, die dir das Leben schenkt schmunzeln. Alles ist lösbar, nimm es mit Humor.“
Erkenntnis 3: Dankbarkeit statt Jammern
„Jeden Tag bin ich dankbarer darüber morgens aufzuwachen, ich bin dankbar die Welt halbwegs fit erleben zu dürfen und meine Enkel und Urenkel aufwachsen zu sehen. Heutzutage jammern die Leute: ich kann dies nicht machen, ich kann das nicht haben und den anderen geht es viel besser. Dann denke ich daran, wie es im 2. Weltkrieg war. Wie wir ängstlich im Luftschutzbunker saßen, wie wir Hunger hatten, es war kalt und wir wussten nicht, wie lange wir noch überleben würden. Und heute beschweren sich die Leute, dass sie nicht das neueste Telefon haben. Ich bin dankbar für das, was ich habe. Ich brauche nicht das ganze verrückte Zeug da draußen.“
Erkenntnis 4: Zeig deine Freude, Dankbarkeit und Liebe
„Als Kind verging die Zeit so langsam, dass ich manchmal Langeweile hatte. Jetzt ist ein Jahr wie ein Wimpernschlag. Wenn du mich fragst, was ich wirklich bereue, sind es zwei Dinge. Das erste: ich hätte viel mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen sollen, als sie noch klein waren. Die Zeit vergeht so schnell und plötzlich sind sie erwachsen. Und das zweite: alle meine Geschwister sind gestorben, alle meine Freunde sind gestorben. Ich bin als letzte übrig geblieben. Ich wünschte mir, ich hätte ihnen mehr gezeigt, wie sehr ich sie mochte. Ich wünschte mir, ich hätte seltener mit meinem Mann gestritten. Wenn er noch leben würde, würde ich ihm heute jeden Tag sagen und zeigen, wie sehr ich ihn liebe. Ich bereue es, dass ich damals nicht dankbar genug war und dachte ich hätte ja ewig Zeit mit ihm. Wir waren so lange Zeit verheiratet und waren ja auch immer für einander da. Wenn du einen Menschen gefunden hast, mit dem du dich gut verstehst, dann zeige deine Zuneigung, sage, dass du ihn liebst und zeige deine Dankbarkeit, dass er in deinem Leben ist. Das ist nämlich ein großes Glück und nicht jeder bekommt eine solche Chance. Das ist nicht selbstverständlich. Mir ist in 97 Jahren auch nur der eine Richtige über den Weg gelaufen.“
Im Gespräch mit der 97jährigen Dame erzählte sie mir von lustigen, traurigen und denkwürdigen Begebenheiten. Während der gesamte Zeit hatte ich nicht das Gefühl ,dass sie Probleme hätte mit dem Älterwerden. Ich fragte sie dennoch und sie antwortete nur: „Ist es nicht ein Geschenk jeden Tag älter zu werden?“
Wie in jeder Hinsicht, spielt der eigene Standpunkt und die Betrachtungsweise eine große Rolle. Momentan wird alles, wirklich alles Materielle bewertet und alles muss optimiert werden. Ich sehe 25jährige Menschen, die sich Botox ins Gesicht spritzen lassen und Menschen, die sich mehreren Schönheits-Operationen unterzogen, nur um in ein Idealbild von ewiger jugendlicher Schönheit zu passen.
Es scheint sich eine oberflächlich agierende Gesellschaft herauszukristallisieren, in der der eigentliche Mensch nicht zählt. Diese Eigenschaften des bewertenden inhaltslosen Gesellschaftssystem führt dazu, dass sich immer weniger Menschen mit sich selbst als Wesen befassen. Die Angst nicht gut genug zu sein ist sehr groß. Eine Flucht in Schönheitsideale, die nie erreicht werden können, erfolgt. Somit wird das Älterwerden zum Feindbild und nur wenige Menschen können dieses wunderbare Geschenk des Reifungsprozesses erkennen oder gar annehmen. Die Frage ist, ob es sich hier um die verborgene und tiefverwurzelte Angst vor der eigenen Vergänglichkeit handelt. Vielleicht ist diese Flucht ein Versuch dem eigenen Tod zu entfliehen. Das Leben selbst ist eine riesige Schatztruhe, die viele Herausforderungen und wunderbare Momente für uns bereithält.
Mit jeder Erfahrung lernen wir unser Sein ein Stück näher kennen und können so immer mehr in uns selbst ruhen. Äußere Einflüsse werfen uns nicht mehr so schnell aus unserer inneren Mitte. Sind wir im Gleichgewicht mit uns selbst, können wir auch gelassener mit den kleinen und großen Herausforderungen im Alltag umgehen. So scheint es nicht verwunderlich, dass eine Studie aus Deutschland sowie der Schweiz herausgefunden hat, das Menschen um das 70. Lebensjahr herum besonders zufrieden mit sich und ihrem Leben sind.
Im Laufe der Jahrzehnte erspüren wir immer deutlicher, wie wir unser Leben glücklicher gestalten können, unabhängig von Trends, Schönheitsidealen, anerzogenen Moralvorstellung und aufgezwungenen Gesellschaftsvorstellungen. Älterwerden bedeutet jeden Tag ein Stück mehr sein eigenes Leben leben zu können.
Wenn ich heute 97 Jahre alt wäre und wüsste, dass jeder Tag mein letzter auf diese Erde sein könnte und ich zurück auf mein Leben schauen würde, was würde ich als besonders wertvoll und erinnerungswürdig empfinden?
Es wären die liebevolle Situationen, die empathischen tiefgründigen Gespräche, das Zusammensein mit meiner Familie und mit meinen Freunden, das Kennenlernen neuer Menschen, das Erlernen neuer Dinge, das Teilen von Erfahrungen und Wissen. Es wären die Momente, die ich in Liebe und Leidenschaft gelebt hätte. Älterwerden bedeutet für mich die Möglichkeit noch viele dieser wundervollen Erinnerungen zu sammeln.
Quelle:
APA PsycArticles: Journal Article
Buecker, S., Luhmann, M., Haehner, P., Bühler, J. L., Dapp, L. C., Luciano, E. C., & Orth, U. (2023). The development of subjective well-being across the life span: A meta-analytic review of longitudinal studies. Psychological Bulletin, 149(7-8), 418–446. doi.org/10.1037/bul0000401